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Harro von Senger und seine „36 Strategeme“

Von Yang Jiaqing

Am 10. Oktober 2006 veranstaltete Harro von Senger, Professor für Sinologie an der Albert-Ludwigs Universität Freiburg im Breisgau (Deutschland) und Experte für chinesisches Recht des Schweizerischen Instituts für Rechtsvergleichung (Lausanne, Schweiz), in Beijing eine Pressekonferenz, und zwar aus Anlass der chinesischen Ausgabe seines Buches Strategeme Band 1 und 2 (Scherz Verlag, Bern 1988 und 2000).

Harro von Senger, der als einer der führenden westlichen Kenner der chinesischen Listkunde gilt, hat mehrere Jahrzehnte der Erforschung dieser chinesischen militärischen Weisheitslehre gewidmet. Strategeme Band 1 über die ersten 18 Strategeme erschien in deutscher Sprache 1988 in Bern und seither in 19 Auflagen (gebundene Ausgabe: 12 Aufl., DTV-Ausgabe: 3 Aufl., kartonierte Sonderausgabe: 4 Auflagen) sowie in 12 Sprachen, darunter u. a. Holländisch, Italienisch, Chinesisch, Englisch, Französisch und Uigurisch. Die Weltauflage umfasst ca. 500 000 Exemplare. Im August 2006 ist das zweibändige Werk in das Land, in dem sich die Wiege der Strategemkunde befindet, zurückgekehrt, und zwar in Form der einbändigen Ausgabe unter dem Titel Zhimou (Volksverlag Shanghai, 766 Seiten).

Von eindrücklicher Gestalt, zeichnet sich Harro von Senger, der fließend Chinesisch spricht, durch ein feines Benehmen mit einem orientalischen Anstrich aus. In seine Ausführungen voller Humor flocht er immer wieder chinesische Redewendungen ein.

Seine erste Begegnung mit den chinesischen „36 Strategemen“

In der Schweiz in einer Intellektuellenfamilie aufgewachsen, hat Harro von Senger zum ersten Mal in seinem Leben chinesische Schriftzeichen bei Zufallsbekannten seiner Eltern 1963 in Einsiedeln (Schweiz) zu Gesicht bekommen. Im selben Jahr schrieb er sich in der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich ein. Da ihn das Studium der Rechte im ersten Semester langweilte, besuchte er einen Russischkurs, wo er einen Studenten aus Macao traf. Dieser schrieb ihm bei der ersten Begegnung die chinesischen Schriftzeichen für „Schweiz“ und „Zürich“ auf ein Blatt Papier und sprach sie sogar noch chinesisch aus. Da beschloss Harro von Senger, Chinesisch zu lernen. Nach dem Erwerb des Züricher Rechtsanwalt-Patents 1971 wollte er seinen lange gehegten „China-Traum“ verwirklichen. Er verließ die Schweiz, um in Taiwan, Japan und auf dem Festland Chinas zu studieren.

Mit den „36 Strategemen“ kam Harro von Senger erstmals während seines Sprachstudiums am Mandarin-Zentrum der Pädagogischen Hochschule Taiwan in Berührung. „Eines Tages sagte mein Sprachlehrer unvermittelt, von den 36 Strategemen sei Wegrennen das beste. Ich fragte ihn auf der Stelle, welches die anderen 35 seien. Er konnte mir nicht recht antworten. Damals wohnte ich im Studentenheim der Rechtsfakultät der Nationalen Taiwan Universität. Ich fragte einige meiner Kommilitonen, ob sie etwas von den 36 Strategemen wüssten. Zwei, drei Wochen später kam ein Kamerad mit einem Blatt Papier, auf das er die 36 Strategemformeln geschrieben hatte. Etwas später zeigte mir ein anderer chinesischer Freund auf einem Buchmarkt ein Buch über die 36 Strategeme.“ „Das interessiert Dich doch“, sagte er. „So kam ich zu meinem ersten Buch über diesen Gegenstand“, erzählt Harro von Senger lächelnd.

In die Schweiz zurückgekehrt, begann Harro von Senger, gesellschaftliche Phänomene im Abendland im Lichte der 36 Strategeme zu betrachten. „Mir wurde klar, dass die 36 Strategeme nichts ausschließlich Chinesisches sind; sie haben weltweite Bedeutung und ermöglichen es überall, die Gesellschaft und menschliche Beziehungen besser zu verstehen. Daher habe ich viele westliche Beispiele in Strategeme Band 1 aufgenommen, um diesen Zweig der chinesischen Kultur zu globalisieren“, sagte er.

Die Strategeme aus chinesischer und abendländischer Sicht

Harro von Senger unterscheidet drei Stufen der Listwahrnehmung. Auf der Null-Stufe weiß der Mensch gar nichts von der List. Als Beispiele erwähnte er Adam und Eva: „Weil Adam und Eva listenblind waren, fielen sie der listigen Schlange zum Opfer. Zornentbrannt vertrieb sie Gott aus dem Paradies.“

Als ein Beispiel für die mittlere Stufe der Listwahrnehmung verwies Harro von Senger auf Machiavelli und sein Buch Der Prinz. Darin schreibt Machiavelli über Cesare Borgia, er habe sich geschickt verstellt, so dass er das Vertrauen seiner Feinde gewann. Ihre Gutgläubigkeit endete damit, dass sie sich von Cesare Borgia ermorden ließen. Auf der mittleren Stufe der Listanwendung bewegt sich Machiavelli, da er das Vorgehen Cesare Borgias ausdrücklich als „hinterlistig“ bezeichnet.

Laut Harro von Senger haben nur Chinesen die Höchststufe der Listwahrnehmung erreicht. Das lässt sich anhand vieler literarischer Beispiele nachweisen. So ist im klassischen Volksroman Romanze der Drei Königreiche von der „Strategemverkettung“ des Hofbeamten Wang und vom „Verkettungsstrategem“ Pang Tongs die Rede. „Europäer hätten lediglich geschrieben, Wang und Pang Tong hätten ‚eine List’ eingesetzt. Sie hätten die List nicht benennen können. Wir Europäer können angesichts der hoch entwickelten Strategemwahrnehmung von Chinesen nur staunen“, rief er bewundernd aus.

„Ich selbst war einmal Strategemopfer“

Wie hat Harro von Senger seine Strategemkenntnisse in die Praxis umgesetzt ?

„Nach meiner Rückkehr in die Schweiz wollte ich umsatteln. Ursprünglich wollte ich ein Spezialist des chinesischen Rechts werden. Ich strebte also eine Karriere in der Rechtswissenschaftlichen Fakultät an. Aber an der Beijing Universität war mir während meiner dortigen Studienzeit 1975-77 der Zugang zur Rechtswissenschaftlichen Fakultät verwehrt worden. Mir blieb nichts anderes übrig, als Geschichte und Philosophie zu studieren. Dies hatte bei mir eine Horizonterweiterung zur Folge. Hinterher war ich dankbar dafür, dass ich nicht Recht hatte studieren dürfen. Um meine nun viel weiter gespannten Interessen befriedigen zu können, wandte ich mich der Sinologie zu. Das sagte ich dem Züricher Sinologieprofessor. Doch dieser reagierte verärgert, denn er hatte seine eigenen Nachwuchskräfte herangezogen. Ich kam ihm wie ein Eindringling vor. Eines Tages schrieb er mir in einer Auseinandersetzung über eine Lehrveranstaltung einen Brief. Unten am Brief stand: Kopie an den Dekan. Ich schickte daraufhin meinen Antwortbrief ebenfalls an den Dekan. Mein Brief war recht höflich. Doch der Professor schickte mir einen zweiten Brief, der mich erzürnte, worauf ich ihm einen nicht mehr sehr zurückhaltend formulierten Brief sandte.

Vor dem Briefwechsel hatte mich der Dekan unterstützt. Aber nach meinem zweiten Brief, den ich ebenfalls in Kopie an den Dekan geschickt hatte, sagte er mir, es sei schwierig, mit mir zusammenzuarbeiten. Und diese wichtige Person wechselte die Seite. Damals war ich noch ziemlich listenblind. Ich betrachtete die Strategeme als etwas rein Chinesisches. Als ich dann zwei Jahre später Strategeme Band 1 verfasste, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Professor hatte das Strategem Nr. 33, das Strategem des Zwietracht-Säens, benutzt. Wäre ich strategemkundig gewesen, hätte ich meine Briefe nicht in Kopie an den Dekan geschickt. So begriff ich die Nützlichkeit der Strategemkundigkeit und erkannte, wie gefährlich Listenblindheit ist.“

Drei Methoden der Strategemanwendung

Gemäss dem Schweizer Sinologen kann man Strategeme in dreifacher Weise anwenden, nämlich erstens aggressiv zur Überlistung eines Gegenübers, zweitens defensiv zur Abwehr einer rechtzeitig durchschauten List eines Gegenübers und drittens aus der Position eines Beobachters, zum Beispiel des innen- oder außenpolitischen Geschehens.

„Warum setze ich mich für die Strategemkunde ein? Weil sie wirklich ein Teil der Weisheit ist. Als Abendländer habe ich den Eindruck, dass dank dem Studium der Strategemkunde meine Intelligenz bereichert worden ist. Die Strategemkunde ist ein hervorragendes Instrument zum besseren Verständnis von Politik, Wirtschaft und zwischenmenschlichen Beziehungen. Was mich vor allem interessiert, sind die zweite und dritte Methode der Strategemanwendung, also die Anwendung des Strategemwissens für Analysen des Weltgeschehens und in der Absicht, nicht Opfer einer Listanwendung zu werden. Meines Erachtens sollte man die chinesische Strategemkunde im Westen verbreiten und mit ihrer Hilfe die Intelligenz von Europäern optimieren. Sie fragten mich, worin sich mein Buch von Strategemwerken chinesischer Autoren unterscheide. In meinem Buch versuche ich, nach abendländischen Kriterien die 36 Strategeme in ein wissenschaftliches System zu bringen und aus verschiedenen Blickwinkeln zu veranschaulichen. Wenn wir uns, zusammen mit Chinesen, der Strategemkunde ethisch vertretbar zu bedienen vermögen, kann dies vielleicht zum Aufbau einer besseren Welt beitragen, einer Welt des Friedens und der gegenseitigen Verständigung“, schloss er seine Ausführungen.

Siehe im Einzelnen:

Harro von Senger: Strategeme Band 1 und 2, sowie: http://www.36strategeme.eu/


 

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