Manager-Magazin.de, 26. August 2004

CHINESISCHE VERHANDLUNGS-STRATEGIE

Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen

Von Karsten Langer

Viele Unternehmen, die in China Geschäfte machen wollen, scheitern - unter anderem, weil sie die chinesische Kunst der List nicht durchschauen. Mit dem Sinologen Harro von Senger sprach manager-magazin.de über die Wirksamkeit der 36 List-Strategeme, Gründe für das Transrapid-Debakel und die Hintergründe des China-Booms.

mm.de: Herr von Senger, wieso sollten sich Manager mit den 36 Strategemen beschäftigen?

von Senger: "Stategem" ist das deutsche Fremdwort für Kriegslist oder allgemein für List. Da das Wort List im Deutschen einen negativen Beigeschmack hat, sprechen wir lieber von Strategemen. Im Gegensatz zu ihren chinesischen Kollegen sind westlichen Managern die Strategeme weitestgehend unbekannt, in der westlichen Managementliteratur spielt der Begriff der List kaum eine Rolle. Demgegenüber gibt es in China Dutzende von Strategem-Büchern für Manager und Unternehmensführer. Das ist einer der Gründe, warum Chinesen ihren westlichen Geschäftspartnern oft überlegen sind.

Ein Gewinn, den Manager aus dem Studium der Strategeme ziehen können, ist die Überwindung der Listenblindheit. Indem man die List erkennt, kann man sie durchschauen und durchkreuzen. Außerdem ermöglicht einem die listige Sichtweise einen anderen Blick auf Problemlösungen. Die 36 Strategeme sind aber kein Kochbuch mit Rezepten für die buchstabengetreue Umsetzung. Den konkreten listigen Weg muss der Manager selbst herausfinden.

mm.de: Dienen die Strategeme dem Angriff oder der Verteidigung?

von Senger: Die Strategeme können offensiv oder defensiv angewendet werden. Die hochgradige Listsensibilität vieler Chinesen, vor allem in Führungspositionen, wirkt wie ein Schutzschild. Der Gesamtzugriff auf die Ressource List eröffnet einen umfassenden Einblick in eine Vielzahl denkbarer Varianten destruktiven listigen Verhaltens. Gerade die Strategemprävention, also das Vorbeugen, müsste Managern am Herzen liegen.

mm.de: Warum gilt die List im westlichen Kulturkreis als amoralisch?

von Senger: Im Vordergrund des modernen westlichen Denkens steht die Aufklärung mit ihrem Streben nach Licht und Klarheit. Diese einseitige Hinwendung zum Licht muss auf Chinesen mit ihrer Yin-Yang-Symbolik einseitig wirken. Yang bedeutet der Himmel, die Sonne, den Mann, das Licht und die Nicht-List. Yin steht für die Erde, den Mond, die Frau und für das Dunkle und damit die List. Yin und Yang sind aufeinander angewiesen. Würde man das eine abtrennen, ginge das andere zu Grunde.

Hervorheben möchte ich noch: Das Problem ist weniger, dass die List im westlichen Kulturkreis als amoralisch gilt. Auch Verbrechen gelten als amoralisch, und doch haben wir im Westen eine hervorragende Verbrechenslehre (Kriminologie) entwickelt. Es ist also keineswegs so, dass man sich mit Verbrechen, da sie als amoralisch gelten, nicht sehr intensiv wissenschaftlich beschäftigen würde. Das Problem mit der List im westlichen Kulturkreis ist weniger deren moralische Verurteilung als deren Bagatellisierung und Nichtbeachtung. Sie ist schlicht kein Thema. Es gibt nicht einmal einen Ansatz zu einer westlichen Listtheorie.

mm.de: Gibt es Strategeme, die Sie als moralisch zweifelhaft empfinden?

von Senger: List als solche ist ein bloßes Werkzeug und ethisch neutral. Die Strategem-Anwendung kann guten, aber auch bösen Zwecken dienen. Je nach Anwendungszweck können die 36 Strategeme in vier ethische Kategorien eingeteilt werden:

Bei Schadens-Strategemen überwiegt das zerstörerische, egoistische Moment, Dienst-Strategeme sind auf konstruktive Ziele gerichtet, bei den Scherz-Strategemen wird die List zur Belustigung eingesetzt und bei den ethisch hybriden Strategemen weiß man nicht, ob das Destruktive oder das Konstruktive überwiegt.

Von destruktiven Strategemen ist natürlich abzuraten. Trotzdem wird jeder Schadens-Strategem-Anwender hoffen, ungeschoren davonzukommen. Je größer die Kenntnis über Stratgeme aber ist, desto schneller wird sich die Situation, in der 100.000 naive Schafe von zehn schlauen Füchsen manipuliert werden können, in ihr Gegenteil verwandeln.

mm.de: Kann man die Strategeme in Kategorien einteilen?

von Senger: Es gibt sechs Kategorien von Listtechniken. Die Verschleierungs-Strategeme dienen der Verhüllung einer vorhandenen Wirklichkeit. So zum Beispiel das Strategem "Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen". Vorspiegelungs-Strategeme sollen eine nicht vorhandene Wirklichkeit vorgaukeln. In diese Kategorie gehört das Strategem "Einen (dürren) Baum mit (künstlichen) Blumen schmücken." Enthüllungs-Strategeme sollen eine schwer zugängliche Wirklichkeit aufdecken, so die List "Auf das Gras schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen."

Die so genannten Ausmünzungs-Strategeme dienen der Ausnutzung einer eigens herbeigeführten oder sich ohne eigenes Dazutun ergebenden Wirklichkeits-Konstellation. Zu dieser Kategorie gehört das Strategem "Das Wasser trüben, um die (ihrer klaren Sicht beraubten) Fische zu fangen. Bei der Strategemverkettung werden zwei oder mehr Strategeme miteinander verknüpft. Die Flucht-Strategeme dienen dem Selbstschutz durch Meidung einer prekären Situation.

mm.de: Gibt es eine verbreitete Schwäche, die westliche Manager gegenüber ihren chinesischen Verhandlungspartnern besonders angreifbar macht?

von Senger: Deren Listenblindheit und deren ungenügende Vorbereitung auf China und alle dortigen unlistigen Belange wie Sprache, Etikette, Recht.

mm.de: Kann es sein, dass der gegenwärtige China-Boom Folge einer großen, von langer Hand vorbereiteten List ist?

von Senger: List im europäisch-negativ gemünzten Sinne ist hier der falsche Terminus. Von langer Hand geplant sind die Veränderungen in China dagegen schon. Mit Sicherheit beruht der wirtschaftliche Erfolg auf dem Strategem Nummer 18, das besagt: "Will man eine Räuberbande unschädlich machen, muss man deren Anführer fangen." Das Strategem meint im Wesentlichen, dass man bei der Führung eines Unternehmens oder der Planung einer Strategie den Angelpunkt, das Kerngeschäft, also den Anführer identifizieren muss, um erfolgreich zu sein.

Im Falle China wurde die Marschrichtung schon 1978 vorgegeben. Der "Hauptwiderspruch", also das strategische Ziel, dessen Erreichen Aufgabe des gesamten chinesischen Volkes ist, wurde zu diesem Zeitpunkt von der politischen Führung neu definiert. Es ist "der Widerspruch zwischen den wachsenden materiellen Bedürfnissen des Volkes und der rückständigen gesellschaftlichen Produktion". Die Hauptaufgabe ist also der sozialistische Wirtschaftsaufbau.

mm.de: Der Fall Transrapid gilt als symptomatisch für westliche Listenblindheit gegenüber chinesischen Verhandlungspartnern. Wie hat die chinesische Seite die deutschen Konzerne überlistet?

von Senger: Als die Transrapid-Planungen deutscherseits im Februar 2000 endgültig eingestellt wurden, schien das mit bis dahin zwei Milliarden Mark von Staatsseite geförderte Verkehrsmittel endgültig auf dem Abstellgleis gelandet zu sein.

In dieser Notsituation traten die Chinesen auf den Plan. Sie kauften die Technik zum Schnäppchenpreis und nutzten alle sich bietenden Möglichkeiten, um das Konsortium um Siemens und ThyssenKrupp unter Druck zu setzen.

Erst wurden Bestellungen wegen Bagatellmängeln storniert, dann Teile der Produktion nach China verlagert. Der Fahrweg in Shanghai gehört heute bereits den Chinesen. Es ist davon auszugehen, dass demnächst auch die Triebwagentechnik kopiert wird. Wenn die Shanghaier Schwebebahngesellschaft heute vor potenziellen Investoren Vorträge über die Zukunft des Transrapid hält, erwähnen die chinesischen Referenten die Deutschen mit keinem Wort.

Hier kam das Verknüpfungs-Strategem zur Anwendung. Das heißt, es wurden mehrere Listen hintereinander angewandt.

mm.de: Wie hätten sich Siemens und ThyssenKrupp schützen können?

von Senger: Indem sie sich vor dem Geschäft besser über China informiert hätten. Natürlich müsste bei einem solch gewaltigen Innovationsprojekt wie dem Transrapid auch das Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Regierung besser funktionieren, damit man Strategem-Anwendern die Gelegenheit zu Ausmünzungsstrategemen nicht geradezu auf dem goldenen Tablett serviert. Auch der deutschen Regierung ist listenblinde Schläfrigkeit vorzuwerfen. Fehlende Strategem-Kundigkeit ist in diesem Lande eine Schwachstelle nicht nur von Managern, sondern auch von Politikern.

Die Nachricht, dass es deutschsprachige Bücher über die chinesische Listkundigkeit gibt, scheint bis in die Elfenbeintürme deutscher - zumeist eurozentrisch eingestellter - Manager nicht gedrungen zu sein. Sie lesen, glaube ich, - falls sie überhaupt etwas über China lesen - konfuzianische Schriften.

mm.de: Wie sollten westliche Manager reagieren, wenn sie während einer Verhandlung ein Strategem der Gegenseite identifizieren?

von Senger: Jeder Fall erfordert je eine ganz spezielle, auf den Einzelfall zugeschnittene Reaktion. Generell lässt sich nur so viel sagen: Auf eine frühzeitig erkannte List des Opponenten kann man reagieren durch eine Gegenlist oder durch konventionelle, nicht listige Maßnahmen.

mm.de: Wie reagieren chinesische Geschäftspartner, wenn sie von westlichen Firmen überlistet werden? Mit Hochachtung oder mit Wut?

von Senger: Sind sie Opfer einer Schadenslist, dann reagieren natürlich auch Chinesen nicht mit Freude.

mm.de: Nennen Sie bitte einen bekannten fernöstlichen Manager, der sich unter Zuhilfenahme der Strategeme ein Wirtschaftsimperium aufgebaut hat. Was hat diesen Mann besonders ausgezeichnet?

von Senger: Der Chinese Li Ka-Shing, einer der reichsten Männer der Welt, erwarb still und leise die Aktienmehrheiten vieler englischer Unternehmen in Hongkong und wandelte sie in chinesische um. Er bediente sich des Auskernungs-Strategems, das besagt "(Ohne Veränderung der Fassade eines Hauses in dessen Innerem) die Tragbalken stehlen und die Stützpfosten austauschen."

mm.de: Gibt es westliche Manager, die sich besonders listenreich verhalten haben?

von Senger: Die Art, wie Raymond A. Kroc sich McDonald's aneignete, war sehr listenreich. 1955 erwarb Kroc von den Brüdern McDonald die Lizenz zur Führung ihres Namens. Dann optimierte er das Unternehmenskonzept. Schließlich zahlte er den Brüdern eine Abfindung in Höhe von 2,7 Millionen Dollar, 1961 war er alleiniger Herr im Haus. Kroc bediente sich, ohne es zu wissen, des Strategems "Die Rolle des Gastes in die des Gastgebers umkehren".

mm.de: Was würden sie westlichen Managern empfehlen, wenn Sie sich in Verhandlung mit Chinesen begeben?

von Senger: Umfassende Vorbereitung und teilweises Ablegen der eurozentrischen Brille. Das Beispiel der Firma Diehl beweist aber, dass man auch die "normalen", nichtlistigen China-Belange bestens kennen muss. Als das deutsche Rüstungsunternehmen Visitenkarten für die Manager in China drucken ließ, ging es nachlässig vor. Der Übersetzer verwechselte das "ie" in Diehl mit einem "ei". Die Folge. Er übersetzte Diehl mit "Dai'ao". Das heißt übersetzt "stellvertretende Arroganz". Durch eine Überprüfung wäre dieser Fehler vermeidbar gewesen.

Außerdem sollten sich Manager mit dem chinesischen Rechtssystem beschäftigen, über das man bei uns eher lächelt, als dass man sich ernsthaft damit befasst. Die an China interessierten Kaufleute scheinen zu glauben, ohne Basiskenntnisse des chinesischen Rechts mit China in Geschäftsbeziehungen treten zu können.

Natürlich werden sie bei konkreten Geschäftsabwicklungen irgendwelche Kenner des chinesischen Rechts konsultieren, das dispensiert sie aber nicht davon, sich selbst auch ein Bild von der Rechtslage zu machen. Unwissende Manager und Geschäftsleute, die in deutscher Sprache vorhandene wichtige China-Informationen nicht zur Kenntnis nehmen wollen und offenbar wähnen, schon alles zu wissen, sind ihren chinesischen Geschäftspartnern, die im Allgemeinen enorm wissbegierig sind, von vornherein nicht ebenbürtig.

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Listenforscher Harro von Senger geboren 1944, ist seit 1989 Professor für Sinologie an der Universität Freiburg i. Br. und Experte für chinesisches Recht des Schweizerischen Instituts für Rechtsvergleichung (Lausanne) sowie seit 2001 Dozent an der Generalstabsschule der Schweizer Armee. Er promovierte 1969 in Jura (Universität Zürich) und 1981, nach langen Studienaufenthalten in Taiwan, der Volksrepublik China und Japan, in klassischer Sinologie (Universität Freiburg i.Br.). Er hat zahlreiche juristische und sinologische Fachveröffentlichungen vorgelegt. Einem größeren Publikum wurde er durch sein Werk "Strategeme" (12. Aufl. 2003, in zwölf Sprachen übersetzt) bekannt.

26.08.2004